Erfindung eines fremden Lebens
Vortrag von Dr. Heimo Schwilk beim 4. “Hamburger Ernst-Jünger”-Abend der L! Mecklenburgia-Rostock in Hamburg.
Von Jasper Juckel, Mecklenburgiae
„Paris, 27. Mai 1944. Alarme, Überfliegungen. Vom hohen Dache des Raphael sah ich zwei Mal in der Richtung von St. Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen … Beim zweiten Male, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.”
Diese gleichermaßen bewunderte wie umstrittene Tagebucheintragung aus den „Strahlungen” des Dichters Ernst Jünger (†1998) bildet seit vier Jahren Rahmen und Motto eines literarischen Abends auf dem Haus der L! Mecklenburgia. Dieses Jahr gelang es uns, den erfolgreichen Publizisten und Biographen Dr. Heimo Schwilk als Vortragenden zu gewinnen. Schwilk ist Autor zweier umfangreicher und maßstabsetzender Jünger-Biographien, hat aber ebenso über die Leben Hermann Hesses und Rainer Maria Rilkes geschrieben. Aktuell reüssiert der ehemalige Feuilleton-Autor mit einer großen Luther-Biographie.
Vor 50 interessierten Zuhörern entwarf Heimo Schwilk, immer wieder Bezug nehmend auf Jüngers Leben und Werk, Programm und Problematik des Biographen. Dabei wurde deutlich, dass beim Schreiben einer Biographie Fakten aus dem Leben des Porträtierten mit Sichtweisen des Biographen zwangsläufig zusammenfließen – es entsteht eine Melange, die Schwilk die „Erfindung eines fremden Lebens“ nennt.
Denn kalte Objektivität gäbe es nicht. Gerade wenn der Autor, wie Schwilk im Falle Jüngers, eine jahrelange fast freundschaftliche Beziehung zum Protagonisten hatte:
„Die emotionale Nähe ist aber auch eine Gefahr. Es wächst eine Art Komplizenschaft, die innere Verpflichtung, den Porträtierten oder seine Angehörigen nicht zu enttäuschen.“ Dennoch sei das Erfolgs-Genre Biographie, das immer mehr Leser findet, keine fiktionale Gattung: „Ich würde die These wagen, dass die meisten Autoren beim Schreiben einer Biographie auf die Suche nach einer Wahrheit, einem Sinn sind, den sie aus dem Leben eines anderen herausfiltern, um auch für sich selbst einen Maßstab zu gewinnen.“
Immer wieder las Dr. Schwilk aus seinen verschiedenen Biographien, die bei aller Unterschiedlichkeit des Sujets durch stilistische Brillanz glänzen. Resümierend stellte er einen Wandel in der Jünger-Rezeption fest, der sich seit dem Tod des Autors vollzogen hat.
Wie auch die Burgunder-Szene heute als erotische Chiffre gedeutet wird (Jünger unterhielt zu Zeit des Tagebucheintrags eine außereheliche Affäre, und es gab an diesem Tag kein Bombardement von Paris), so wird auch der einst als Kriegsverherrlicher kritisierte Autor gelassener gesehen. Das läge u.a. an dem in seinen Biographien gewählten unverkrampften Umgang mit Jüngers Werk.Schwilk: „Der Verzicht auf eine Verteidigungshaltung hat sich als der richtige Weg erwiesen. Heute beobachte ich eine entspannte, ja achtungsvolle Haltung gegenüber diesem so umstrittenen Autor. Ob Jünger dies gefallen hätte, weiß ich nicht. Er legte ja immer Wert darauf, als der große Unzeitgemäße zu erscheinen. Seine Maxime lautete: Ohne Gegner kein Profil.“
Letzteres passt wohl auch auf die Korporationsszene.
Dem Vortrag schloss sich ein phantastischer Abend im Garten des Mecklenburgenhauses an, zu dem als Sundowner, was sonst, Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, gereicht wurden.
Auch der bekannte „Weltwoche“-Autor und Ex-„Spiegel“-Journalist Matthias Matussek (KdStV Capitolina Rom) hatte den Weg zu Vortrag und Ausklang gefunden. So endete der 4. „Hamburger Ernst-Jünger“-Abend in harmonischer und durchgeistigter Atmosphäre erst tief in der Nacht und mit Vorfreude auf den 5. Abend nächstes Jahr.