Rede anlässlich des ökumenischen Gottestdienstes am Ehrenmal des CC 2016
Redner: Pfarrer i.R. Martin Siebert, Landsmannschaft Rhenania Münster
Sehr verehrte Gäste, meine sehr geehrten Herren Verbandsbrüder, liebe Bundesbrüder, liebe ökumenische Pfingstfestgemeinde!
Damals vor fast 2000 Jahren feierten Juden, unter ihnen eine kleine Gruppe von Judenchristen, das Fest Schavuot zur Erinnerung an die Proklamation der Zehn Gebote durch Mose. Es war 50 Tage nach dem Passahfest und dem für die christliche Kirche konstitutiven Osterereignis. Die Apostelgeschichte im NT berichtet, dass an diesem Tag die kleine judenchristliche Gemeinde den von Jesus versprochenen Heiligen Geist empfangen habe –man kann es auch seine Ausgießung oder Einstiftung nennen-, der ihnen die Osterbotschaft vom Sieg Christi über den Tod ein und für alle Male bestätigte. Da es ohne Ostern und Pfingsten weder ein Christentum noch eine christliche Kirche gäbe, feiern wir also heute auch in gewisser Weise den Geburtstag der weltweiten Kirche Jesu Christi. Die Stiftungsbotschaft war einfach, doch die nachhaltige Umsetzung im Alltag war es nicht. In der Nachfolge Jesu Christi hatten die ersten Christinnen und Christen radikal ernst gemacht mit Jesu Bergpredigt. Der Schreiber der Apostelgeschichte (Lukas) fasst diese radikale Nachfolge in kurzen, fundamentalen Aussagen zusammen:
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Die Gläubigen waren einmütig beisammen und hatten alle Dinge gemeinsam.
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Sie verkauften all ihren Besitz und teilten den Erlös unter einander je nach Bedarf
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Sie waren bei allem Volk beliebt, und ihre Zahl nahm ständig zu.
So wurde das Evangelium öffentlich und bleibt es bis zum heutigen Tag!
Dieses anfänglich radikal-christliche Paradigma währte nicht lange, denn sehr bald begann es in allen Bereichen zu menscheln. Aus gelebtem Idealzustand wurde mit wachsender Gemeinde ein Ideal ohne allumfassende Realisation, eine Utopie. Aus christlichen Individuen wurde das Christentum, ab 381 AD befohlene Staatsreligion des römischen Reiches, also Bekenntniszwang. Mehr und mehr Völker und Nationen, die sich christlich nannten, kamen hinzu. Machtkämpfe in einer oft verhängnisvollen Ehe von Staat und Kirche, Eroberungsdrang und national-staatliche Interessen –um nur einige Abweichungen vom Ideal zu nennen- hatten längst die radikale Jesusnachfolge verdrängt und vergessen, und so waren es auch hauptsächlich sogenannte christliche Nationen, die sich in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts –den blutigsten der Geschichte- gegenseitig zu vernichten trachteten. Den Geist der ersten Pfingsten können wir nicht beschwören, aber mit dem heutigen Gedenkgottesdienst wollen wir dem Vermächtnis derer, derer wir uns heute erinnern, den Raum unter uns verschaffen, den sie mit Recht beanspruchen und einen Weg zur Muttersprache des Herzens finden:
Mehr als 10 Millionen deutsche Kriegstote aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, darunter all die Verbands- und Bundesbrüder, denen dieses Ehrenmal geweiht ist, rufen uns auf, sie aus der Anonymität der kalten Zahlen zu befreien, und ihnen Platz zu machen in unserem Gedenken und unseren Herzen. Keine Null am Ende der monströsen Zahl von 10 Millionen, sondern eine 12, eine 27, oder auch nur eine 1, je nachdem, wie viele zu unseren Familien, zu unseren Korporationen, zu unseren Heimatorten gehörten und gehören. In unserer Erinnerung erhält jeder und jede Einzelne Namen und Gesicht, unverwechselbare und einzigartige Identität. Im Tod erst sind sie Eins geworden mit den Millionen der Anderen, denn das Leben hatte es ihnen versagt, weil Freunde und Feinde, Gute und Böse gebraucht wurden, um Krieg zu führen, Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe dem Anderen zu versagen. Im heutigen Gedenken und Erinnern bedarf es der Stellvertretung: Stellvertretend für all die Verbands- und Bundesbrüder, deren Leben und Sterben wir erinnern, will ich Namen und Gesichter von Menschen beleben, die mein Leben berührt haben und noch berühren, will sie ganz nahe an die Seite derer stellen, die ich nicht kannte, damit ich sie noch aufnehmen kann in mein Leben.
In meinem Heimatdorf Burghaun im Kreis Fulda sind im ehemaligen Torhaus die Gedenktafeln für die Gefallenen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts angebracht. Jedes Mal, wenn ich davor stehe und die Namen lese, erst vor drei Tagen habe ich es wieder getan, überkommt mich eine tiefe Traurigkeit, denn von fast allen Toten des Ersten Weltkrieges habe ich noch Familienangehörige persönlich gekannt, bin mit so manchen ihrer Großnichten und Großneffen zur Schule gegangen und mit einigen von ihnen von meinem Vater konfirmiert worden. Ich habe mir noch von Brüdern einzelner Gefallenen, die selbst z. B. in der Schlacht um Verdun dabei waren, erzählen lassen, wie es damals war, als der Erste Weltkrieg zu einem wirklich totalen Krieg wurde. Sie haben mir auch berichtet, dass damals als nahezu letzte Hoffnung auf einen deutschen Sieg die neuartigen Grünkreuz-Granaten – sie waren am Kartuschenboden mit einem grünen Kreuz markiert – eingesetzt wurden. Diese Artilleriegeschosse enthielten Diphosgen, einen hochgiftigen, flüssigen Lungenkampfstoff, der nach dem Einatmen Salzsäure freisetzte. „Daran stirbst du nicht“, sagte mir einer, „daran verreckst du!“ „Auf dem Weg in die Hölle von Verdun bin ich, Gott sei Dank, verwundet worden, es kostete mich nur ein Bein“, erzählte mir Karl K. Strategisch blieb die Schlacht um Verdun ohne Sinn, der Tod jedes einzelnen Soldaten sinnlos! Die Namen der Gefallenen, mehr als 300.000 auf beiden Seiten, stehen auf den Gedenktafeln in Australien, Deutschland, England, Frankreich, um nur einige Länder der Beteiligten zu nennen, und sie zählten zu den sogenannten christlichen Nationen. Unsere Brüder, auch Schwestern, aus der großen Menschheitsfamilie waren zumeist zwischen 18 und 25 Jahren alt, sie waren sinnlos um ihr Leben gebracht worden, bevor es zur Blüte für Familie, Volk und Gesellschaft kommen konnte. Verdun und seine Toten sollen in unserem Gedenken stellvertretend für all das Kriegen und sinnlose Sterben im Ersten Weltkrieg genannt werden, der insgesamt mehr als 9 Millionen einzigartigen Menschen das Leben kostete. Am Ende dieses Krieges stand dann in der Tat ein bitterer Frieden, der die Völkerwelt noch einmal vergiften sollte, ehe Annäherung und letztlich Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen dem Frieden in der westlichen Welt soliden Boden verschafften. Doch bevor es dazu kam war mit dem nationalsozialistischen Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg die Urkatastrophe über die Menschheit hereingebrochen:
Nun stehe ich in meinem Heimatdorf Burghaun vor der Gedenktafel der Gefallenen des Zweiten Weltkrieges. Wie sich doch die Namen gleichen! Einige von ihnen sind Söhne gefallener Väter aus dem Ersten Weltkrieg, andere sind Neffen derer, die damals für Kaiser und Reich von einer an Nationalismus und aufkeimendem Rassismus erkrankten Nation in den sinnlosen Tod geschickt wurden. Sie, die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges sollten die Schmach der ersten Niederlage und des Versailler Diktats für immer beheben und dem tausendjährigen Reich eines nationalsozialistischen Deutschlands die Vormachtstellung in der Welt sichern. Sie fielen dem zweiten Betrug, der ungleich größer war als der erste, zum Opfer. Fast alle, die auf der Gedenktafel stehen, habe ich noch persönlich gekannt. Der Valenti B. hat mir im September 1942, als er auf Urlaub war, vom wirklichen Krieg erzählt, bevor er zurückfuhr zur Truppe bei Stalingrad. Er hat niemals mehr einem Kind vom wirklichen Krieg erzählen können. Doch ein Kamerad, vielleicht war er ein Verbandsbruder, schreibt aus Stalingrad an seinen Vater: „Was ist die Wirklichkeit hier, mein lieber Vater? Ein Verrecken, Verhungern, Erfrieren. Sie fallen wie die Fliegen, keiner begräbt sie; ohne Beine und Arme und oft ohne Augen, mit zerrissenen Bäuchen liegen sie überall, es ist ein viehisches Sterben.“ Ein anderer Kamerad schreibt an seinen Bruder: „Sollten wir hier rauskommen, dann werden wir zu Hause aufräumen mit den Verbrechern, die behaupten, dieses sinnlose Opfer sei von Nutzen für die Heimat.“ Die Verbrecher brauchten sich nicht zu ängstigen, denn die, die aufräumen wollten, kamen nicht nach Hause. Auch die Worte von Willi G. sind mir noch in Erinnerung: „Soldat spielen ist ja ganz schön, wenn nur der verdammte Heldentod nicht wär‘.“ Willis Name steht auf der Gedenktafel! Ich denke ans sie alle, die mein Leben persönlich berühren, wozu auch mein um 1 Jahr älterer Bruder Hans und über 20 Schulfreundinnen und Schulfreunde gehören, die am 21. November 1944 einem Bombenangriff auf Hünfeld zum Opfer fielen, dem ein Freund und ich aus welchem Grund auch immer entkamen. Meine Erinnerung malt all die Gesichter derer, an die ich denke, und sie verweigert dem Tod, dass er das letzte Wort hat. Genauso denke ich jetzt an die wohl nach Tausenden zählenden Verbandsbrüder, Waffen- und Farbenbrüder, die in beiden Weltkriegen ihr Leben lassen mussten. Dabei denke ich auch an den Leutnant, der mit einem von einer Granate aufgerissenen Bauch auf einem Verbandsplatz bei Verdun auf den Operationstisch gelegt wurde. Er war noch bei Bewusstsein. Der Stabsarzt sah auf den zerfetzten Leib, schüttelte mit dem Kopf und wollte ihn zudecken, doch da erblickte er unter dem Waffenrock das schwarz-rot-goldene Burschenband. Der Zirkel auf dem Bandknopf brachte die Gewissheit, der sterbende Leutnant war ein Bundesbruder, ein Marburger Armine. Der Arzt gab sich dem Sterbenden zu erkennen, und dessen Augen leuchteten noch ein Mal auf. Mit letzter Kraft und klarer Stimme sagte er: „Sag’s den Anderen, Frieden, Frieden, Bundesbrüderlichkeit lebenslang!“ Der Arzt konnte die Hand des Bundesbruders lange nicht loslassen, und seine Tränen tropften auf das Gesicht des Toten. So hat es der Alte Herr mir dem Jungbursch vor 62 Jahren auf dem Arminenhaus erzählt. An den gefallenen Leutnant von den Marburger Arminen denke ich jetzt auch an diesem Ehrenmal. Für sie alle, denen dieses Ehrenmal gewidmet und geweiht ist, an dem wir jetzt stehen, gilt uneingeschränkt das, was ich schon von den Gefallenen meines Heimatdorfes gesagt habe, die heute und hier zu Stellvertretern geworden sind. Gedenken, sehr verehrte Gäste, liebe Verbands- und Bundesbrüder, heißt sich erinnern. Dieses Erinnern aber muss mehr sein als ein kurzes und flüchtiges „So-war-das-damals-also“! Erinnern, wenn es denn einen tragenden Wert haben soll, muss denen, an die wir uns erinnern, eine Stimme geben, muss ihre Namen in unser Leben zurückrufen, dass sie nicht in Stein gemeißelt bleiben, sondern einen Platz in unseren Gedanken und Herzen finden, denn nur dann können sie zu uns sprechen. Nur wenn wir sie in uns tragen, können wir auf sie hören. In einem langen, ereignisreichen, mit Höhen und Tiefen markierten Leben, davon 25 Jahre in den USA, habe ich immer wieder versucht, besonders auf die um ihr Leben betrogenen Menschen, die erst im Tod Eins wurden mit dem angeblichen Feind, zu hören. Doch auch die Stimmen derer die sich dem Tod entgegenstemmten sollen gehört werden. So höre ich jetzt noch einmal auf die längst verstummte doch nie verklingende Stimme meines Bundesbruders Möllmann, der als Arzt im Sanitätsdienst inmitten des Schlachtgetümmels zwischen Freund und Feind der Nächstenliebe und universalen Menschenwürde ein Denkmal gesetzt hat. Er hatte sich für schwerverwundete Soldanten des Gegners nicht weniger eingesetzt als für die Verwundeten aus den eigenen Reihen. Einen schwerverwundeten amerikanischen Offizier zog er bei der Operation einem weniger schwer verwundeten deutschen Soldaten vor, was ihm eine Anklage wegen Bevorzugung des Gegners und das Todesurteil durch ein „Fliegendes Standgericht“ einbrachte. Nur Stunden vor der angesetzten Exekution kam er durch Kampfhandlungen in US-amerikanische Gefangenschaft. Der US-Offizier hat nach dem Krieg alles darangesetzt, seinen Retter zu identifizieren und zu finden, und der Tag kam, als sich beide die Hand reichen konnten. Menschenwürde und Nächstenliebe waren Bbr. Möllmanns Maxime, mit denen er sich gegen ein Freund-Feind-Denken auflehnte, das Menschen das Einssein erst im Tod gestattete. Ich höre seine Stimme, und nicht nur wir Rhenanen danken ihm. Ob ich sie aus meinem Heimatdorf, aus meiner Rhenania, von ihren Gräbern in Deutschland oder USA, den Stolpersteinen in Hünfeld und Peine, oder den Gedenktafeln in Bergen-Belsen her kannte, ist dabei nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist das, was sie mir sagen! Gewiss, jeder und jede von uns mag anders hinhören und so auch Unterschiedliches hören. Mir aber sagen sie auch heute wieder: All eure historischen Analysen und Dokumentationen der Vergangenheit, alle soziologischen, psychologischen, philosophischen und theologischen Studien, die das Warum erforschen, schuldhaftes Verhalten aufdecken und Schuldige benennen, das alles ist durchaus wichtig und kann dazu beitragen, der Wiederholung vergangenen Unheils zu wehren, denn der Dialog mit dem/der Anderen setzt solides Wissen voraus, und Wissen baut Ängste und Vorurteile ab. Doch dies alles vorausgesetzt, vergesst nicht das Wichtigste, was ihr im Gedenken und Erinnern an uns am heutigen Tag und zu dieser Stunde beschwören, fordern und fördern müsst: Frieden beschwören, Frieden fordern, Frieden fördern mit dem wichtigsten aller Ziele, nämlich Frieden schaffen ohne Waffen! Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Chor der Gefallenen und Geschändeten, der Chor der Gefolterten, der Chor der in den Todeslagern Ermordeten, der auf der Flucht von Deutschland nach Deutschland Erschossenen, der in Afghanistan gefallenen Bundeswehrangehörigen und der in allzu vielen Ländern dieser schönen doch sehr verwundbaren Welt wegen ihrer Religion oder ihres Andersseins Ermordeten zu sagen hat an diesem Ehrenmal des Coburger Konvents: Wehret dem Hass, wehret religiösem und rassistischem Wahn, wehret allem, was die Würde des Menschen verletzt. Rauft euch zusammen, führt den Dialog auf solider Wissensbasis, schafft Raum der Mitmenschlichkeit, werdet selbst Mensch nach dem Willen des Schöpfers, denn nur dann kann Frieden werden. Nur dann kann aus der Vision des Propheten Jesaja von vor fast 2700 Jahren endlich Wirklichkeit werden: „Zur letzten Zeit werden die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen, denn es wird kein Volk mehr wider das andere ein Schwert aufheben, und sie werden hinfort nicht mehr kriegen lernen“ (Jesaja 2,4). Zu der Zeit wird auch die Utopie des ersten Pfingstfestes ihren Ort der Realisation haben. Die Toten des Coburger Konvents, derer wir heute an diesem Ehrenmal stellvertretend für die Millionen Anderer gedenken, sie sind uns Mahnung und Wegweisung zugleich. Wir verneigen uns in Trauer und richten uns auf in Hoffnung!
Ich danke ihnen!