Rede zum Festkommers – Pfingstkongress 2017
Hohes Präsidium, meine Herren
„Mehr Toleranz und Zivilcourage“ so heißt das Leitmotiv, das meine liebe Landsmannschaft Gottinga als Präsidierende über diesen Pfingstkongress des Coburger Conventes gestellt hat. Mehr „ertragen“ und „ mehr Bürgermut“ zeigen!
Nicht nur, das hinnehmen, was ich ohnehin für richtig halte, sondern das, an dem ich „trage“, das mir in gewisser Weise eine Bürde ist, weil es mir, meiner Werteorientierung oder meinem Wesen im weiteren Sinne fremd ist. Weil es etwas Anderes ist oder tut, als ich es täte, sein wollte oder bin.
Mehr Mut einfordern, unter Inkaufnahme von Risiken oder Nachteilen, als Bürger dort das Wort zu erheben oder zu handeln, wo unsere gesetzliche Ordnung oder unser gesellschaftliche Werteordnung es erfordern, weil der Staat gerade nicht zur Stelle ist oder kein anderer Mitbürger dies tun kann oder tut.
Ein hoher Anspruch. Salopp könnte man auch sagen: „ Ein großes Wort gelassen ausgesprochen.“
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: ich hätte mir gewünscht, ich hätte dieses Thema schon vor zwei Jahren auf dem Pfingstkongress besprechen können. Unter dem Eindruck der Entwicklungen der letzten zwei Jahre in der Welt und der Ereignisse und Diskussionen speziell in Deutschland wäre es mir leichter gefallen; es wäre unpolitischer und ein weniger sensibles Thema gewesen. Zudem hätte ich mir die Frage einiger meiner Freunde in Vorbereitung dieser Rede erspart: „Noch mehr Toleranz, Hans- Georg?“
A. Der Coburger Convent – nicht rückwärtsgewandt
Sei´s drum: wir, der Coburger Convent und die in ihm zusammengeschlossenen Korporationen sind aktuell, wir sind ein integraler Bestandteil dieser Gesellschaft und wir nehmen an der aktuellen Diskussion sensibler Themen teil. Zu diesem Selbstverständnis passt das Motto des diesjährigen Pfingstkongresses. Und ich danke Ihnen, dass ich zu Ihnen sprechen darf.
Lassen Sie mich gleich zu Anfang meines Festvortrages eine Erwartungshaltung ausräumen. Dies wird kein Festvortrag der sich im Wesentlichen mit den Geschehnissen vor 180 Jahren um die Gebrüder Grimm in Göttingen, die sog. Göttinger Protestation, befasst oder versucht , die Entwicklung der Begriffe Toleranz und Zivilcourage (den es übrigens erst seit den 1990er Jahren gibt) bis in die heutige Zeit nachzuzeichnen.
Das wäre aus mindestens zwei Gründen falsch:
1. Dem Coburger Convent und seinen Mitgliedsbünden steht es gut an, nicht jedes Thema zunächst rückwärtsgewandt zu betrachten. Wir werden sonst keine Chance haben, eine irgendwie geartete Bedeutung als relevante Gruppe von Akademikern in Staat und Gesellschaft, bei deren rasanter Veränderung einzunehmen. Dem einen oder anderen gebe ich die Denksportaufgabe mit, ob wir nicht bereits jetzt in der Situation sind, dass wir diese gesellschaftliche Relevanz zurückgewinnen müssen, weil wir sie in weiten Teilen verloren haben. Wer unsere Geschichte hat, und von Anbeginn seiner Korporation auf die richtigen Werte gesetzt hat (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Ehrenhaftigkeit etc.- alles Werte auf die ich nachher noch kommen werde) braucht dies nicht immer wieder rückwärtsgewandt zu betonen. Wir müssen mit diesem Wertekanon gerade in der heutigen Zeit selbstbewusst das aktuelle Zeitgeschehen begleiten und mitgestalten, wo dies möglich ist.
2. Toleranz und Zivilcourage müssen immer im Kontext der verfassungsmäßigen, gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen interpretiert werden, unter denen sie gelebt und eingefordert werden. Nur so kann man die feine Balance zwischen der berechtigten Forderung nach (vielleicht sogar mehr) Toleranz und Zivilcourage und dem falschen Berufen auf Toleranz und Zivilcourage – dann wohl meist und ausschließlich für das eigene Handeln – finden.
B. Toleranz – als Kind der Freiheit schätzen und gestalten
1. Toleranz im freiheitlichen Rechtsstaat
Lassen Sie uns gemeinsam einen Versuch unternehmen, die Begriffe der Toleranz und der Zivilcourage unter den Bedingungen des freiheitlichen demokratischen Staates der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2017 anzuschauen und uns der Frage nähern, ob mehr Toleranz und mehr Zivilcourage tatsächlich eine Entwicklung oder ein Postulat sind, die wir als Verbindungsstudenten hinnehmen oder gar mittragen müssen. Bei der Gelegenheit erlaube ich mir den Hinweis, dass das Kongress-Motto weder ein Ausrufezeichen, noch ein Fragezeichen noch eine andere Form der Interpunktion aufweist. Insofern ist es tatsächlich spannend, herauszufinden, ob wir das Kongress-Motto als Postulat, als fragwürdige Entwicklung oder als eine notwendige Beschreibung des Status, in dem sich unsere gesellschaftliche Entwicklung befindet, einordnen können.
„Toleranz“ kommt bekanntlich von „tolerare“, was so viel heißt wie „ertragen“. Heißt, etwas aus eigener Entscheidung hinnehmen, was einem schwer fällt, wirklich schwer fällt.
Und damit sind wir auch gleich beim ersten wichtigen Punkt. Die Entscheidung, etwas zu ertragen oder nicht zu ertragen, kann ich nach unserem rechtsstaatlichen Verständnis nur im staatsfreien, d.h. gesetzlich nicht reglementierten Raum Platz greifen. Also im Verhältnis zwischen gleichgeordneten Rechtssubjekten, nicht im Über- und Unterordnungsverhältnis von Staat und Bürger. Toleranz und damit auch die Forderung nach mehr Toleranz kann sich nur auf die Interaktion von Bürger zu Bürger beziehen. Gleichzeitig setzt dieses Postulat einen staatlichen Rahmen voraus, der die nötigen Freiräume für Toleranz gewährt. Toleranz ist ein Kind der Freiheit. Dort wo der Staat alles reguliert, braucht es keine Toleranz; es gibt aber auch keine Freiheit. (In einem solchen freiheitlichen Rechtsstaat leben wir dankenswerter Weise. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist ein hohes Gut, das es zu verteidigen gilt.)
Was hat es nun auf sich mit der Forderung nach mehr Toleranz? Wollen wir sie, müssen wir sie ertragen und haben wir einen Einfluss darauf wo wir sie wollen?
2. Freiheit fordert immer ein Mehr an Toleranz
„Mehr Toleranz“ ist die berechtigte Aufforderung staatlich gegebene Freiräume auch auszuschöpfen, sich selbst im besten Sinne zu verwirklichen und der Selbstverwirklichung der anderen nicht unnötig im Wege zu stehen. Es ist im besten Sinne das Einfordern der Freiheit, die die Väter unseres Grundgesetzes in Art. 2 Abs.12postuliert haben und für das auch schon die Göttinger Sieben bei Ihrem Widerstand gegen die Gesetze von Ernst August von Hannover gestritten haben.
Ich möchte an dieser Stelle sogar noch ein Stück weitergehen: eine Gesellschaft, die prinzipiell den Anspruch erhebt, eine“ freiheitliche“ zu sein, ist auf die Erweiterung der Grenzen der Freiheit und damit auch auf immer mehr Toleranz ausgerichtet. Wenn Sie dies nicht mehr ist, gefährdet oder verliert sie den Anspruch „systemisch freiheitlich“ zu sein.
Hinzu kommt die Einsicht, dass mit dem Faktum einer globalisierten Welt, mit beinah unbeschränkten Reisemöglichkeiten und der allgegenwärtigen Informationstechnologie der ständige Transport von Neuem in unseren Gesichtskreis mehr denn je an uns die Anforderung stellt, sich mit Neuem und Anderem auseinanderzusetzen und hochfrequenter als früher zu entscheiden, ob wir dieses Andere dulden wollen oder nicht. Kurz gesagt: Das Andere kommt zu uns, ob wir es wollen oder nicht – und stellt die Frage nach Toleranz.
Im Kern ist es also die Freiheit unseres Lebens in unserer Gesellschaft die auf die Erweiterung unseres Gesichtskreises und unserer gesellschaftlichen Realität, aber auch unserer Werte und Normenvorstellungen ausgerichtet ist.
3. Mehr Toleranz bewusst wagen und mitgestalten
Mit der Forderung nach „mehr Toleranz“ erwächst damit gleichzeitig die Frage, wo findet die Toleranz Grenzen und wohin führt grenzenlose Toleranz – und vielleicht auch Freiheit? Grenzen findet die Toleranz sicherlich im gesetzlichen gesteckten Rahmen. Eine rechtswidrige Handlung bleibt rechtswidrig, gleichgültig wie viele Menschen sie tolerieren.3 Jedes andere Verständnis würde unser Prinzip der Gewaltenteilung, zumindest in einem freiheitlich demokratischen Staat, in Frage stellen. – Lassen sie uns an dieser Stelle einmal die Frage, ob Zivilcourage in einzelnen Fällen auch gegen staatliche Gesetze ins Feld geführt werden kann, zurückstellen.
Aber, sehen wir einmal genau hin und sind ehrlich: immer mehr undifferenzierte Toleranz führt in der Konsequenz zu immer mehr Individualismus und damit zu einer Reduktion des gesellschaftlichen Minimalkonsenses auf die für die Gemeinschaft unbedingt verbindlichen Verhaltensweisen und wohl auch Werte, zumindest aber Wertvorstellungen.
Man muss um diese zentrifugale Wirkung wissen und das darin liegende Wagnis auch wollen. Eine andere Frage ist, ob es dem Wesen der Toleranz widerspricht, wenn das Mehr an Toleranz im gesellschaftlichen Diskurs gestaltet und damit kontrolliert wird. Was meine ich damit?
Jeder von uns spürt in gewisser Weise, noch ohne dass es rational begründet wäre, dass schrankenlosen Individualismus ein nicht gewolltes Gegenmodell zu einer Gesellschaft ist, in der es das erforderliche Mindestmaß von Zusammengehörigkeit und Verantwortlichkeit für einander gibt. Konsequenterweise müssen wir uns als Gemeinschaft intensiver denn je mit der Frage beschäftigen, was die unumstößlichen Kernwerte unseres Gemeinwesens sind, auf die wir nicht verzichten wollen.
Lassen sie mich diese etwas abstrakten Ausführungen konkretisieren:
Wir haben in den letzten Jahrzehnten erlebt wie sich das Bild der „Familie“ durch Tolerierung anderer Formen des Zusammenlebens, die dann auch gesetzlich normiert worden sind, massiv verändert hat. Neben ein klassisches Familienbild Mann/Frau oder Mann/Frau/Kind ist das Bild gleichgeschlechtlicher Lebenspartner als Familie getreten; gleichgeschlechtlichen Beziehungen, die biologisch keine Kinder bekommen können, ist es gestattet, Kinder zu adoptieren, um ihre Vorstellungen von Familienleben zu realisieren. Sog. Patchwork-Familien sind an der Tagesordnung, weil unsere gesellschaftliche Entwicklung das fordert. Und ich möchte noch ein Stück weiter gehen; ich wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte, dass auch drei oder mehr Ehepartner ein so intensives Beziehungsband aufbauen können, dass man dies einer Familie gleich stellen soll. Sei es aus religiöser Überzeugung oder aus anderen Gründen.
Man darf dann umgekehrt nur nicht beklagen, dass die klassische Familie als Leitbild in unserer Gesellschaft eine immer geringere Rolle spielt, diese bei passender Gelegenheit wieder einfordern oder sich wundern, weshalb in der Familie die Aufgaben nicht mehr geleistet werden, die Staat und insbesondere Schule nur in Teilen oder gar nicht substituieren kann.
Kurz um: je mehr wir die Möglichkeiten unserer Freiheit erweitern, diese Freiheit auch leben und die Toleranz anderer hierzu einfordern, desto mehr müssen wir uns damit beschäftigen, was wir für den unverzichtbaren Kern unserer gemeinsamen Überzeugung halten.
Zu Recht fragt Reinhard Mohr in seinem bemerkenswerten Beitrag in der WELT AM SONNTAG vom 1. Januar 2017: „Wäre es nicht eigentlich logisch, dass gerade in einer multikulturellen Gesellschaft umso stärker auf die Einhaltung grundlegender Regeln gepocht werden müsste, je diverser die sozialen, ethnischen, kulturellen und religiösen Wurzeln sind ?“
Mit anderen Worten: Wir müssen also nach einem Mehr an – lassen Sie es mich „zentrierter Toleranz“ nennen – suchen.
Mehr Toleranz kann es in vernünftiger und gesellschaftlich tragbarer Ausprägung nur geben, wenn wir wissen, dass diese Forderung auch Grenzen hat und wenn wir nicht vergessen, diese Grenzen in einem gesellschaftlichen Diskurs und Konsens ständig, ggf. auch ständig neu zu definieren.
Sich daran proaktiv zu beteiligen, ist m.E. die eigentliche Aufforderung an uns alle, die ich schon an dieser Stelle an jeden von Ihnen richten möchte.
4. Ausbalancierte Toleranz einfordern
Und dann ist da noch ein zweites wesentliches Element der Toleranz, dem wir uns stellen müssen: Toleranz ist keine Einbahnstraße. Was Rosa Luxemburg zur Freiheit gesagt hat, gilt auch für ihr Kind, die Toleranz: „Freiheit ist immer zuerst die Freiheit des anderen.“ Toleranz ist immer zuerst die Toleranz gegenüber dem anderen. Das bedeutet für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, mit denen wir uns in den letzten Jahren konfrontiert sehen: Die von mir geforderte Toleranz muss im Zweifel in ein Gleichgewicht gebracht werden, dass mein Gegenüber bereit ist zu leben. Wir brauchen also eine Balance der Toleranz.
Konkret auf unsere Gesellschaft und unseren Staat runtergebrochen, heißt das für mich: wir schulden nicht immer Toleranz als Vorleistung und auch keine einseitige Toleranz bis an die Grenzen der vollständigen Beibehaltung der Extremposition unseres Gegenüber.
Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen:
Der erste Fall, ist der, in dem sich der Vater eines Schülers mit dem Hinweis auf seinen islamischen Glauben weigerte, der Lehrerin seines Sohnes die Hand zu geben.
Die zweite Thematik ist das vieldiskutierte Verbot bzw. die Erlaubnis der Vollverschleierung in Deutschland.
Es kann vernünftigerweise keine Diskussion darüber geben, dass Glaubensfreiheit bei uns Schutz genießt. Es kann aber auch keinen Zweifel daran geben, das wir in einer sekulären Staatordnung mit zentralen Werten leben und es in der Gesellschaft ungeschrieben Werte und Verhaltensweisen gibt, die zentral für Ihren Zusammenhalt und den Umgang miteinander sind.
Für die beiden konkreten Fälle bedeutet dies aus meiner – ganz persönlichen – Sicht:
Die Gleichbehandlung von Mann und Frau sind ein zentrales Selbstverständnis unserer Verfassung. Wer dem eine Ordnung, und sei sie auch religiös motiviert, gegenüberstellt, in der Mann und Frau im alltäglichen Umgang systemisch – und nach außen demonstrativ – anders behandelt werden, muss die religiöse Toleranz aufbringen, sich anzupassen. Anderenfalls kann er von uns keine Akzeptanz erwarten und hierfür auch keine Toleranz einfordern.
Schon die Römer wussten um die Bedeutung des Gesichtes für den sozialen Umgang miteinander: „Das Gesicht ist das Abbild des Hirns und die Augen sein Berichterstatter“ schreibt Cicero (106 – 43 v. Chr.) oder „Dem Klugen wird auch ein Gesicht zur Sprache“ Pubilius Syrius (römischer Moralist, Aphorist und Possenschreiber 90-40 v. Chr.). Moderner drückt das der Geologe und freie Autor Ronny Bloch (geb. 1978) aus: „Die größte Kraft pro Fläche erzeugt der Gesichtsausdruck“.
Es gibt meines Erachtens keinen vernünftigen Zweifel, dass für einen möglichst reibungslosen und vor allem gleichberechtigten sozialen Umgang untereinander in einer aufgeklärten Gesellschaft das Zusammentreffen von „Angesicht zu Angesicht“ ein zentraler Bestandteil unserer [Umgangs-]Kultur miteinander ist. Ich persönlich wüsste nicht, weshalb wir dies opfern sollten, zumal uns tausende von Frauen islamischen Glaubens täglich demonstrieren, dass auch das Tragen eines Kopftuches ausreichend und mit Ihrem Glauben vereinbar ist. Auch hier sehe ich legitime Grenzen einer ausbalancierten und zentrierten Toleranz in unserer Gesellschaft.
Wenn wir diese Grenzen nicht vernünftig definieren, fürchte ich, laufen wir Gefahr, viele unserer Mitbürger/innen im Ringen um mehr Toleranz – in einer sich immer schneller ändernden Welt – und im Ergebnis auch im Ringen um mehr Zivilcourage zu verlieren!
C. Zivilcourage
Kommen wir damit zur „Zivilcourage“! Was ist das eigentlich? Brauchen wir Sie? Brauchen wir mehr von ihr? – Und welche Bedeutung hat die Zivilcourage überhaupt für eine Gesellschaft in einem freiheitlich demokratisch verfassten Staat.
1. Ein junger und streitbarer Begriff im freiheitlichen Rechtsstaat
Historisch ist der Begriff „Zivilcourage“ noch recht jung. Seit den 1990er Jahren, als es in ganz Deutschland zu ausländerfeindlichen Aktion, Brandstiftung und Morden, kam, sprechen Politiker und zivilgesellschaftliche Organisation von der Notwendigkeit Zivilcourage zu zeigen. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker war der erste Politiker in einem solchen Amt, der in den 1990er Jahren die Bevölkerung zu Zivilcourage aufrief. Seit knapp 20 Jahren ist diese Tugend als demokratische Tugend gewissermaßen offiziell anerkannt. Auch der derzeit letzte Bundespräsident, Joachim Gauck hat in seiner Antrittsrede am 18.03. 2012 die „Zivilcourage“ der Bürger eingefordert. Der aktuelle Bundespräsident hat es in seiner Antrittsrede etwas anders formuliert: „Demokratie ist die Staatsform der Mutigen“, sagte er. Was hat es damit auf sich?
Klar ist, Zivilcourage ist etwas anderes als „Mut“: Mut ist eine Tugend, ja auch eine Kraft, die im innersten Kern der Persönlichkeit und des Charakters angesiedelt ist. Zivilcourage zeigt man und soll sie zeigen – Mut hat man oder eben nicht. Zivilcourage unterscheidet sich daher von sportlichem Mut und natürlich auch von dem Mut antidemokratischer Akteure.
Auch von einer anderen Form der – falschverstandenen – Zivilcourage gilt es sich begrifflich abzugrenzen: Es ist die Form der Suche nach politisch – medialer Öffentlichkeit, die mit einem Mausklick oder einem Tweet erzeugt werden kann und bei der man seine politisch korrekte Haltung bei „campact“, „change.org“ oder „Aufschrei“ dokumentieren kann. Hier ist im Wesentlichen “Mitmachen“ die Devise. Das Gefühl auf der richtigen Seite zu stehen, wird gratis mitgeliefert. Man schwimmt im Mainstream der moralisch Überzeugten und notorisch Empörten.
Darum geht es mir heute nicht.
Begrifflich soll uns für heute dasjenige genügen, was der Duden hergibt: dort findet man die Erklärung „Mut, den jemand beweist, indem er humane oder demokratische Werte (z.B. Menschenwürde oder Gerechtigkeit) ohne Rücksicht auf eventuelle Folgen in der Öffentlichkeit, gegenüber Obrigkeiten, Vorgesetzten o.Ä. vertritt“.
Zivilcourage bedeutet also Mut, der sich in ziviler Form zugunsten der Zivilität zeigt, der sich Toleranz, Freiheit und Gerechtigkeit verpflichtet fühlt. Wenn ich im Folgenden also von Zivilcourage spreche, meine ich den „Bürgermut“ im vorstehenden Sinne.
Wenn wir hier und heute nach einem Mehr an Zivilcourage rufen oder fragen, sehen wir uns dabei einem gewissen Dilemma ausgesetzt:
– Es mutet in gewisser Weise absurd an, in einem die Achtung der Menschenwürde und den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechtsstaat Zivilcourage als bürgerlichen Mut gegenüber einer repressiven Obrigkeit einzufordern oder zu einem gesellschaftlichen Leitbild zu erheben.
– Die dichotomische Struktur des Begriffsverständnisses von „Zivilcourage“ ist nicht aufhebbar. Die Geister werden sich immer an dem Punkt scheiden, wer oder was Objekt bürgerlicher Courage wird oder werden soll. – Das können wir hier und schon gar nicht ex cathedra leisten.
2. Zivilcourage: ihre Funktion
Ich denke, wir können trotzdem in einer sehr pragmatischen Herangehensweise die Antwort finden, ob wir mehr Zivilcourage brauchen? Nämlich indem wir uns (a) die gewünschte Funktion der Zivilcourage vor Augen führen und (b) nach den Voraussetzungen für das Entstehen von Zivilcourage fragen.
Genau wie die Toleranz, hat die Zivilcourage ihre Wurzeln in der Freiheit unserer Gesellschaft. Das Postulat von Zivilcourage erkennt implizit an, dass der Staat nicht überall sein kann und in etlichen Bereichen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens auch nicht gegenwärtig sein darf. Wo diese Konstellation gegeben ist, wird im Idealfall die Zivilcourage also die Durchsetzung der Werteordnung unserer Gemeinschaft durch Einzelne oder Gruppen von uns gewünscht. Vorausgesetzt, es liegt der Mut dazu vor und die notwendige Bereitschaft Nachteile in Kauf zu nehmen.
Zivilcourage setzt also individuellen und/oder kollektiven Bürgersinn voraus. Nämlich, das Verständnis, dass man Teil einer Zivilgesellschaft ist, die unabhängig von Staat wechselseitig Verantwortung für einander trägt und einander durch gemeinsame Werte verbunden ist. Dieser Bürgersinn umfasst damit auch gleichzeitig das Verständnis, dass es eine Bürgerschaft, eine „civis“ unabhängig vom Staat gibt, die nach unserem Verständnis dazu da ist, die Wertegemeinschaft der Bürger friedlich, in Ausnahmefällen (a) gegen einen repressiven Staat und (b) dort wo der Staat sein Gewaltmonopol nicht ausüben kann (oder darf), notfalls auch mit Gewalt, zu ordnen.
Daraus folgt m.E. unmittelbar, dass wir generell mehr „Zivilcourage“ brauchen. Wenn der Staat sich nach unserem Verständnis soweit wie möglich aus dem Leben der Zivilgesellschaft heraushalten soll, also kein allgegenwärtiger Staat sein darf, dann müssen in die sich daraus ergebenden Freiräume mündige und mutige Bürger hineinstoßen, um Defizite in der Umsetzung gesellschaftlicher Freiheiten und ziviler Werte zu verhindern.
3. Zivilcourage: Drei Fallgruppen und ihre aktuelle Bedeutung
Gilt diese generelle Feststellung für alle konkreten Fallgruppen der Zivilcourage gleichermaßen und wo erlangt die Zivilcourage heute aktuell Bedeutung?
Fallgruppe 1 – Raum für die Verteidigung von Freiräumen gegen den Staat: Schwierig ist der Umgang mit der „großen“ Zivilcourage, dem Widerstand des Bürgers gegen den Staat, der ihn – vermeintlich oder zu Recht – in seinen wohlverstandenen bürgerlichen Rechten beschneidet und/oder einschränkt. Das ist die Konstellation der „Göttinger Sieben“ oder auch der Menschen, die „Das Volk sind wir“ gerufen haben und dadurch eine der wenigen friedliche Revolutionen in Deutschland bewirkt haben.
In der Realität der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2017 scheint mir Wachsamkeit geboten, wo „Zivilcourage“ als Legitimation für [– zumeist rechtswidriges -] Handeln gegenüber unserem heutigen Staat, seinen Organisationseinheiten oder ganz abstrakt Organisationsformen Andersdenkender ins Feld geführt wird.
Für diese Art der Zivilcourage, die allzu leicht von antidemokratischen Akteuren idealisiert und als Widerstand gegen ein repressiven Staat kategorisieren wird, gibt es in unserem Staat in der Tat unstreitig wohl nur noch wenig legitimen Raum. Der letzte unstreitige Bereich, der mir unmittelbar dazu einfällt und der auch in Zukunft immer wieder auftreten wird, ist derjenige wo der Staat in der organisatorischen oder verwaltungstechnischen Umsetzung demokratisch legitimierte Regelungen Missstände aufweist, sei es personeller oder sonstiger Art und so gesehen ziviler Widerstand gegen die Art der staatliche Umsetzung von legitimen und legalen staatlichen Entscheidungen geboten ist.
Fest steht aber umgekehrt: Nicht immer, wenn sich jemand darauf beruft, etwas getan zu haben und daraus die für ihn nachteiligen persönlichen Konsequenzen getragen zu haben, hat dies etwas mit „Zivilcourage“ zu tun. Das gilt für den Bundestagsabgeordneten, der einen Flüchtling im Kofferraum über die Grenze schmuggelt ebenso wie denjenigen, der gegen “Stuttgart 21“ protestiert, ein Projekt, dem ich – ganz nebenbei – angesichts der Kosten und unsicheren Entwicklung – auch nicht ungeteilt positiv gegenüberstehe.
Fallgruppe 2 – Zivilcourage als die Verteidigung von Leib, Leben und Eigentum anderer: Natürlich bei der Verteidigung von Leib und Leben Dritter gegen rechtswidrige Angriffe abseits staatlicher Zugriffsmöglichkeiten, hier notfalls mit Gewalt, liegt dies auf der Hand. Damit verbinden wir den Begriff der „Zivilcourage“ zwanglos und können auch spontan der Forderung nach einem Mehr zustimmen.
Fallgruppe 3 – Verteidigung gegen die Verrohung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der politischen Auseinandersetzung: Absehbar ist, dass wir angesichts der Tendenzen unserer gesellschaftlichen Entwicklung in Zukunft noch deutlich mehr Zivilcourage in der Form des sog. Mutes im Alltag brauchen werden.
Zum sog. Mut im Alltag gehört nämlich neben der Abwehr krimineller Handlungen noch viel mehr: Es gibt ihn zum Beispiel auch am Arbeitsplatz, im Büro oder auch in Parteien, in Vereinen und in Freundeskreisen also den Mut bei Zumutung oder auch illegalen Praktiken von Vorgesetzten und Kollegen, den Mut zur eigenen Meinung gegenüber opportunem konformen Verhalten, den Mut zur Abweichung bei Fraktionszwang. Schließlich gibt es den Mut von Amtsinhabern, die sich mit dem herrschenden, die Demokratie einschränken Verhältnis nicht abfinden wollen. Sie alle gehen hohe Risiken ein: Verleumdung, Ausschluss, Versetzung, Entlassung, keine Wiederwahl.
Zurecht weist Reinhard Mohr in dem bereits zitierten Artikel in der WELT AM SONNTAG darauf hin, dass angesichts des eklatant steigenden Gewaltpotentials wahrscheinlich heutzutage leider schon Zivilcourage dazu gehört, jemanden in der S-Bahn darauf aufmerksam zu machen , dass Rauchen nicht gestattet ist oder dass die Füße auf den Sitzbänken nichts zu suchen haben.
Mehr noch erschreckt und fordert zur Zivilcourage aber der mittlerweile allenthalben geübte Stil der demokratischen Auseinandersetzung heraus.
Drei Beispiele:
(1) Wer auf einer Demonstration die Bundeskanzlerin an einem Galgen hängend über unsere öffentlichen Straßen trägt, kann dafür keinerlei Verständnis oder auch Toleranz erwarten. Unabhängig von etwaig verwirkten Straftatbeständen, sind hier die Grenzen dessen, was eine wertebasierte politische Auseinandersetzung ertragen muss, überschritten. Hier ist Zivilcourage angezeigt.
(2) Dort, wo im Fernsehinterview von Vertretern demokratisch gewählter Parteien im Zusammenhang mit dem Attentat von Anis Amri auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin sinngemäß bedauert wird, dass derjenige Politiker, dem vermeintliche Versäumnisse im Zusammenhang mit der Asylpolitik vorzuwerfen sind, nicht persönlich Opfer des Anschlages geworden sind, werden „rote Linien“ unserer Bürgergemeinschaft in der politischen Auseinandersetzung überschritten. Auch hier ist Raum für Zivilcourage.
(3) Um nicht missverstanden zu werden. Hier sind alle bis in höchste Ämter unseres Staates gefordert. Zurecht fragt m.E. der SPIEGEL Online unter dem Titel „Demokratie und Feigheit, Jagdszenen am Rhein“ weshalb eine Partei, die in elf Landtage eingezogen ist, teilweise mit zweistelligen Ergebnissen, nur unter dem Schutz von 4000 Polizeibeamten ihren Parteitag abhalten kann, ohne dass sich dazu auch nur ein einziger Vertreter der anderen Parteien kritisch äußert?
Dass Delegierte und Pressevertreter nur unter Polizeischutz den Tagungsort erreichen konnten ist eine Sache. Dass Journalisten von Demonstranten in den Dialog: „Bist Du Nazi? Nein. Journalist. Dann weis Dich aus!“ verwickelt wurden, eine andere.
Mit einem offenen, toleranten und bunten Köln hat dies nichts zu tun. Zurecht bemerkt der Spiegel: Man hätte sich hier ein Wort des Bundespräsidenten als Streiter für Demokratie gewünscht. Das wäre m.E. auch ein wichtiger und bemerkenswerter Akt von Zivilcourage gewesen. Der Artikel des SPIEGEL schließt mit den Worten: „Mutig ist es, gegen die Mehrheit zu stehen. Leider wird beides in Deutschland häufig verwechselt. Das ist, wenn man so will, unsere Tragik.“
Dem kann ich mich nur anschließen.
4. Zivilcourage: Keine Zivilcourage ohne Wertegemeinschaft
Wichtig erscheint mir abschließend nochmals herauszustellen, dass sich individuelle oder gemeinschaftliche „Zivilcourage“ nicht ohne Wertbindung denken und auch nicht ohne die Verantwortung des Einen für den Anderen fordern lässt. Anders gesagt. „Tunc tua res agitur paies cum proximus ardet! Wenn das Haus Deines Nachbarn brennt, geht es auch Dich an.“ – Diese grundsätzliche Einstellung in der Gesellschaft müssen wir und auch der Staat durch sein Handeln fördern.
Wenn wir diese Einstellung wollen, brauchen wir aber nicht nur im Einzelfall mehr Mut, sondern insbesondere mehr gemeinsames Verständnis und Wertschätzung für sowie Bekenntnis zur Bürgerschaft als Gesamtheit eines Staates oder einer Bevölkerung. Wer die „civis“ nicht ehrt, von dem wird man nur schwer erwarten können, dass er/sie sich solidarisch verhält oder wie es so schön heißt „es ihn etwas angeht, wenn das Haus seines Nachbarn brennt“. Überspitzt gesagt: Wer sich nirgendwo richtig zugehörig fühlt, hat auch nur sich zu verteidigen. Wo wir dieses Bekenntnis zur Gemeinschaft und die Artikulation des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gemeinschaft platt als Nationalismus disqualifizieren, können wir umgekehrt kein Anwachsen von Verantwortlichkeit für das große Ganze erwarten. Ich denke, dies meinte der letzter Bundespräsident Joachim Gauck mit seiner Frage: „Warum sollen wir den Stolz den Nationalisten überlassen?“
Daneben müssen wir uns bewusst sein, dass wir dort, wo wir einem Individualismus bis an die Grenzen des Möglichen tolerieren, ihm das Wort reden. Dort wo wir Organisationen aufbauen, zu denen niemand mehr ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt oder entwickeln kann, wird die Zivilcourage ein rückläufiges Phänomen bleiben. Das Haus des anderen, ist auch mein Haus – Teil einer Gemeinschaft und da es um die Verteidigung von Werten geht, im Zweifel Teil einer Wertegemeinschaft. Wo und in dem Umfang, in dem wir uns scheuen, die Werte, die unsere Gemeinschaft zentral zusammenhalten zu definieren und durchzusetzen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn kein Impuls zur Verteidigung dieser Werte in der Zivilgesellschaft besteht. Ein Gutteil des Problems, das wir derzeit in Europa und auch in Deutschland im Wahlverhalten der Menschen beobachten können, resultiert aus dieser Entwicklung.
Deshalb sind Gemeinschaften – und in diesem Kontext auch unsere Verbindungen – wichtig. Ebenso ist es wichtig und unverzichtbar, dass die Bürger eines Staates sich als Gemeinschaft, als ein Volk, definieren dürfen und dies auch ausgesprochen wird und dass es Organisationen wie der EU gelingt, zu vermitteln, dass es nicht darum geht, den Menschen ihre angestammten Bezugspunkte zu nehmen.
Umgekehrt muss demjenigen bewusst sein, der sich zuallererst und beinahe ausschließlich als Individuum in seiner Selbstverantwortung begreift, die Berufung auf Zivilcourage anderer zwecks Hilfe für seine Person, sich in einem inneren Widerspruch befindet, den er nur selbst auflösen kann.
Maßgeblich ist die innere Grundhaltung, aus der der Mut erwächst, sich im entscheidenden Moment für den anderen einzusetzen. Diese muss schon weit vor der entscheidenden Situation durch das gesellschaftliche, politische und staatliche Umfeld geschaffen und geprägt sein.
Mehr Toleranz und mehr Zivilcourage haben hier ihre gemeinsame Basis.
D. Forderungen an uns
Zusammengefasst ergeben sich daraus für das Handeln jedes Einzelnen von uns und in unserer studentischen Gemeinschaften m.E. folgende Forderungen:
- Wertschätzen wir stets unsere freiheitlich demokratische Ordnung, die uns die Freiheit gibt, Toleranz zu üben und auf ein Mehr an Toleranz angelegt ist. Sie ist nicht selbstverständlich. Nie war das in den letzten 20 Jahren so deutlich wie heute.
- Erkennen wir an und sprechen wir aus, dass gerade unsere freiheitliche Gesellschaft eines Kerns an unverzichtbaren verbindenden Werten und Regeln bedarf, die nicht dispositiv sind. Dieser Kern gemeinsamer Überzeugungen bildet die notwendige Grundlage für die Kraft zur Toleranz und zur Zivilcourage und zu einem Mehr davon.
- Seien wir wachsam, wenn die Forderung nach mehr Toleranz anfängt, jeder Form von Individualismus zu huldigen und das notwendige Maß an innerer Zusammengehörigkeit in unserem Gemeinwesen in Frage stellt.
- Achten wir auf die notwendige Balance beim Einfordern und Üben von Toleranz bei uns selbst und unserem Gegenüber.
- Verteidigen wir als diejenigen, die sich als zu dieser Wertegemeinschaft zugehörig bekennen, den Wertekanon, der unsere bürgerliche Freiheit ausmacht, wo der Staat es nicht kann oder nicht soll, indem wir mehr Zivilcourage üben. Statt unserer wird sich niemand dazu berufen fühlen und wird es – im Zweifel – auch nicht tun.
- Arbeiten wir alle persönlich daran mit das Spannungsfeld zwischen wohlverstandener Toleranz und Individualismus und dem notwendige Maß (von „civis“,) von „bürgerlichem Gemeinsinn“ auf allen Ebenen, d.h. in (der) Familie, in der Verbindung/Universität, im Sport(verein), Partei (in der Politik), am Arbeitsplatz etc., immer wieder neu zu definieren und zu festigen. Dieses Tun schafft uns allen die erforderliche Grundlage für mehr gelebte Toleranz und für mehr gelebte Zivilcourage.
In diesem Sinne ist mehr Toleranz geboten und mehr Zivilcourage zu fordern.
Herzlichen Dank für das mir erteilte Wort !!
Coburg, den 05.06.2017
Professor Dr. Hahn